Räumungsbefehl eigener Bericht aus Neumittelwalde

Von Berta Maier von Weinertsgrün

Die Bevölkerung meiner Heimatstadt Neumittelwalde Kreis Groß Wartenberg in Niederschlesien, erhielt den Räumungsbefehl in der Nacht vom 19. und 20. Januar 1945, als sowjetische Panzer in der Gegend von Kempen (Warthegau) standen. Seit Tagen zogen die hohen Kastenwagen flüchtender Wolhyniendeutscher durch unseren Ort. Oben hockten alte Leute und kleine Kinder mit blaugefrorenen Gesichtern, in dunkle Wolltücher eingemummt. Sonst gemahnte nichts an das Nahen der Roten Armee. Bis zum letzten Tage wurde normal gearbeitet.
Ich litt seit Tagen an einer Diphtherie, die ich mir beim Schachten von Panzergräben an der Verteidigungsstellung, der sogenannten "Barthold-Linie", zugezogen hatte. Die Krankheit wurde jedoch erst viel später als Diphtherie diagnostiziert. Was es heißt, wenn Menschen mitten im Winter und bei Nacht aufgefordert werden, binnen weniger Stunden mit Handgepäck, alles im Stich zu lassen, wofür sie und ihre Vorfahren ein Leben lang gearbeitet haben, um den Weg ins Ungewisse anzutreten, vermag niemand zu begreifen, der es nicht erlebt hat. Mein Vater war an beiden Beinen vollständig gelähmt und seit Jahren bettlägerig. Meine Mutter, die noch unter dem Verlust meines in Rußland als Flugzeugführer gefallenen jüngsten Bruders litt (von meinem älteren Bruder hatten wir seit Wochen keine Nachricht mehr aus dem Felde) und durch die jahrelange Krankenpflege des Vaters aufgebraucht war, stand der Situation völlig hilflos gegenüber. Ich selbst vermochte mich wegen der eigenen Erkrankung nur mit größter Energie auf den Beinen zu halten.
Wir wußten nicht, wo wir beginnen sollten. Kleider und Wäsche wurden aus den Schränken gezerrt, eingepackt, wieder ausgepackt. Auf dem sonst sorgsam gehüteten Gut wurde achtlos herumgetrampelt. Zum Glück hatte ich seit dem Durchbruch am Weichselbogen einen mit Familiendokumenten, Zeugnissen und Fotografien gepackten Koffer griffbereit in meinem Zimmer stehen. Noch vor Morgengrauen ließ ich unsere Haustiere aus den Ställen und schüttete alles vorrätige Futter in den Hof. Meiner schönen, großen Tigerkatze öffnete ich Fleischkonserven. Das mit uns in enger Gemeinschaft lebende, kluge Tier schien das Außergewöhnliche der Situation zu begreifen, krallte sich an mir hoch und schrie langgezogen wie ein Mensch.
Auf den Straßen bot sich dem Betrachter ein erschütterndes Bild. Vor allen Häusern saßen Menschen auf ihren Gepäckstücken im Schnee bei 18 Grad Kälte und warteten schweigend auf den Abtransport, der mit Hilfe von Fahrzeugen aus der Gegend in aller Früh beginnen sollte. Niemanden sah ich weinen. Von den Nachbardörfern zogen die ersten Bauerntrecks durch die Straßen, denen sich die örtlichen Fahrzeuge anschlossen, hochbeladen mit Säcken, kleinen Kindern und alten Leuten. An eine Aufnahme der noch Wartenden war nicht zu denken. Einige Einwohner hängten Handwagen und Schlitten an die Bauernfahrzeuge oder brachen mit beladenen Fahrrädern und Kinderwagen zu Fuß auf. In den Vormittagsstunden kamen Wehrmachtslastkraftwagen durch. Auf unserer Straße befahl ein Hauptmann aus Breslau das sofortige Abladen des Wehrmachtsgutes, damit Frauen und Kinder aufgenommen werden konnten. Meine Mutter und mich hätte man auch mitgenommen. Mit meinem gelähmten Vater wollte man sich jedoch nicht belasten. So blieben wir denn und versprachen einander, gemeinsam durchzukommen oder gemeinsam zu sterben. Gegen Mittag hatte sich die Stadt schon ziemlich gelichtet. Es kamen noch einmal kleine Wehrmachtsfahrzeuge durch. Die hungrigen Soldaten stürzten sich gierig auf das ihnen dargebotene Essen. Ans Sparen brauchte niemand mehr zu denken.
Es befanden sich noch einige Hundert Menschen im Ort und der Umgebung, die damit rechnen mußten, noch eine Nacht zu Hause zu verbringen, immer hoffend, daß der Russe vielleicht doch noch zurückgeschlagen würde. Die Betriebe der Geflüchteten waren bereits von den im Ort zahlreich beschäftigten polnischen Fremdarbeitern übernommen worden. Sie verhielten sich noch ruhig, weil sie noch mit durchziehendem Militär rechneten. Wir sahen zu Hause jedoch keins mehr. Gegen Abend erkundigten sich verschiedene Einwohner auf dem Rathaus, über die Lage. Im Nachbarkreis Namslau (Glausche) waren von der Roten Armee angeblich bereits Greueltaten verübt worden. Für die letzten Einwohner aus Neumittelwalde und Umgebung sollte am nächsten Tag noch ein Sonderzug aus Breslau eintreffen, falls der Russe nicht eher da wäre. Trotz meines schlechten Zustandes begab ich mich nicht mehr ins Bett. In der Nacht gab es noch einmal Alarm. Er erwies sich aber als blind. Noch vor Tagesanbruch schaffte ich mit dem Schlitten einen Reisekorb mit Lebensmitteln und drei Säcke mit Betten, Kleidern und Wäsche auf den Bahnhof. Auf dem Bahnsteig türmte sich das Gepäck. Nur ein Bruchteil davon gehörte den noch Anwesenden. Es handelte sich vorwiegend um Gut, das von den bereits Aufgebrochenen noch aufgegeben worden war. Seit dem 19. Januar war jedoch jeder Zugverkehr nach Neumittelwalde eingestellt.
Ich brachte dann noch einer körperbehinderten Nachbarin das Gepäck zur Bahn, weil sie mir ihren Handwagen zur Beförderung meines Vaters zur Verfügung stellen wollte. Inzwischen war es Tag geworden, der 21. Januar 1945, ein frostklarer Sonntagmorgen. über dem ganzen Land lag Totenstille. Als ich das Gepäck der Nachbarin abgeladen hatte, eröffnete uns der inzwischen eingetroffene Ortsgruppenleiter, daß der Sonderzug wegen Feindnähe abgesagt worden sei. Man solle alles liegenlassen und zu Fuß aufbrechen. Die Menschen standen wie versteinert da, mit maskenhaften Gesichtern. Es waren doch vorwiegend ältere und kranke Leute und deren Angehörige, die beim Massenaufbruch nicht mitgekommen waren und einen Fußmarsch gar nicht wagen konnten.
Plötzlich ertönte der langgezogene Pfiff einer Lokomotive, jedoch nicht aus Richtung Breslau, sondern aus Richtung Ostrowo. Da setzte auch schon das Panzerfeuer ein. In die Menschen geriet Bewegung. Ich rannte wie gehetzt mit dem Handwagen stadteinwärts, um meine Eltern zu holen, normalerweise ein Weg von 15 Minuten. Auf der Bahnhofstraße kamen mir drei Volkssturmmänner im Laufschritt entgegen. "Bist du wahnsinnig? Reiß aus, der Russe ist da!"
Vor unserem Hause traf ich zum Glück den Postbeamten Pohl, der zum Bahnhof eilte. Ich bat ihn, mir den Vater heraustragen zu helfen. Wir zerrten ihn auf den Wagen, warfen ihm einige Decken über, ich warf noch meinen Dokumentenkoffer auf und zog im Hinausgehen als letztes Erinnerungsstück an zu Hause den riesigen Hausschlüssel aus der Tür, dann rannten wir zum Bahnhof. Meine Mutter schob, ich zog den Wagen durch den glatten Schnee. Ein Bein meines Vaters hatte sich eingeklemmt. Er stöhnte, wir konnten nicht zögern; denn es ging um unser Leben. Vor uns watschelte, so schnell es ihre Körperfülle erlaubte, eine ältere Frau aus der Nachbarschaft, ihre geschlachteten Stallhasen an einem Seil nach sich ziehend. Kurz vor dem Bahnhof sahen wir einen Handwerksmeister aus der Stadt, wie er im Laufschritt seinen alten kranken Vater auf dem Rücken trug. Beim Einbiegen in die Bahnhofsallee rollte der erste sowjetische Panzerspähwagen nach Richtung Hirschrode. Er ließ uns ungeschoren. Auf dem Bahnhof herrschte höchste Geschäftigkeit. Angeblich war ein Lokomotivführer aus Ostrowo mit seiner Lok geflüchtet. Ihn hatte Gott in letzter Minute zu unserer Rettung gesandt. Diesem Umstand und der Pflichttreue eines bis zuletzt auf seinem Posten ausharrenden Beamten, des Bahnhofsvorstehers Winschiers, war es zu danken, daß einige Hundert wenigstens zunächst einem grauenhaften Tode entrinnen konnten. Die Lokomotive war gestoppt und so rasch als möglich auf Nebengleisen an Plateau-Loren rangiert worden. Als wir am Bahnhof eintrafen, waren sie schon mit Gepäck der Anwesenden und den wartenden Personen beladen. Wir konnten gerade noch den Vater aufladen, drei Säcke und den Koffer aufwerfen. Den Reisekorb mit den Lebensmitteln mußten wir auf dem Bahnsteig stehen lassen, weil höchste Eile geboten war, denn es bestand die Gefahr, daß die sowjetischen Panzer den Bahnübergang bei Hirschrode abschneiden würden. Als sich die Lok mit dem Zug bereits in Bewegung gesetzt hatte, sahen wir noch einige Gestalten dem Bahnhof zueilen. Zu spät! Wir atmeten erst auf, als der gefährliche Bahnübergang passiert war. Die Panzer schienen aus allen Richtungen zu feuern. Uns nahmen unsere großen Wälder schützend auf. Man hörte die Nachbarn wieder reden und nahm erst jetzt wahr, wer sich neben einem befand. Vom Aufbruch selbst war mir nur der zuletzt aufspringende Bahnhofsvorsteher in Erinnerung geblieben. In Buchenhain stiegen weitere Flüchtende zu. In Festenberg stand dann der Sonderzug, der sich zu uns nicht mehr gewagt hatte. Hier hörte man noch keine Schüsse, jedoch war auch Festenberg schon zum größten Teil geräumt. Der Oelser Bahnhof, auf dem sonst reges Treiben herrschte, wirkte leer. Erst bei Nacht kamen wir in Breslau an. Unsere Flucht begann am 21. Januar 1945. Nach Bayern kamen wir am 1. Juni 1945.

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